Call for diskurs & Hinweise zum datum #5v

2022-04-29

Call #5v zum Diskurs über Archivierung, Bereitstellung und Nachnutzung von qualitativen Forschungsdaten

Das Publikationsorgan datum&diskurs nimmt unter dem Motto „Empirie – Theorie – Diskurs“ die empiri- sche Wirklichkeit zum Ausgangspunkt erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung und lädt Kolleg*innen der Schul- und Unterrichtsforschung zu einer qualitativ empirischen Auseinandersetzung mit Forschungs- daten verschiedener Art ein, wie dies mit den Diskursen zu den Daten der Calls #1-4 geschehen ist. Mit den Diskussionen und ihren verschiedenen, teilweise konkurrierenden Perspektiven auf die empirische Wirk- lichkeitskonstruktion bietet datum&diskurs ein fachlich hybrides Forum zur forschungspraktischen, multi- methodischen, methodologischen und analytischen Auseinandersetzung um die Erstellung, Bereitstellung und Nachnutzung von Forschungsdaten.

Mit dem Varia-Call #5v wird diesmal kein konkretes Forschungsdatum gesetzt, über welches ein Diskurs entfaltet werden soll, sondern der Call zielt darauf ab, eine übergreifende Diskussion anzustoßen. da- tum&diskurs richtet den Blick auf Fragestellungen, die sich durch die Archivierung, Bereitstellung und (Se- kundär-)Nutzung von qualitativen Forschungsdaten ergeben. Damit schließt datum&diskurs an eine Diskus- sion an, die wissenschaftspolitisch zunehmend Konjunktur gewinnt: So fordern Drittmittelgeber wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), das Bildungsministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und das EU-Rahmenprogramm Horizon 20201 die Bereitstellung von Forschungsdaten ein, die European Univer- sities Association (EUA)2, die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) 3, die Gesellschaft für Empirische Bildungsforschung (GEBF) und die Gesellschaft für Fachdidaktik e.V. (GFD) positionieren sich – bei allen Fragen im Detail – positiv zur Bereitstellung von Forschungsdaten für Sekundäranalysen. Dabei werden in den Diskussion Erwartungen formuliert, die von Aspekten fachlicher Qualitäts- und Plausibilitäts- sicherung, verbesserter Nachvollziehbarkeit der wissenschaftlichen Wissensproduktion – auch angesichts der Legitimationskrise der Wissenschaften sowie der Postfaktizität – bis hin zur freien Zugänglichkeit öf- fentlich finanzierter Daten und einer offenen Wissenschaft (Open Science) reichen.

datum&diskurs greift mit diesem Varia-Call – ohne hierbei ein konkretes Forschungsdatum für einen wis- senschaftlichen Diskurs zu setzen – offene Fragen und Kontroversen zur Archivierung, Bereitstellung und Nachnutzung qualitativer Daten auf (z.B. Richter/ Mojescik 2021; Zeitschrift für Pädagogik 2021; DGfE 2020; DGfE et al. 2020; Unger 2018; Bambey et al. 2018b; Bishop / Kuula-Luumi 2017; Hammersley 2010, Medjedović/ Witzel 2005).

Forschungsdesiderate können insbesondere im Bereich der empirischen Erforschung von Datenpraktiken identifiziert werden (Schindler 2018; Medjedović 2007). Auch sind bisher in empirisch-forschender Ausei- nandersetzung mit archivierten Daten ethische, methodologische und infrastrukturelle Fragestellungen bis- lang eher selten in den Blick genommen worden (Beckmann et al. 2020; Kreitz 2021; Houben/ Eckert 2022). In einer übergreifenden Perspektive kann somit gefragt werden, welche methodischen, epistemologischen und ethischen Problemstellungen und Handlungsmöglichkeiten mit der Archivierung, Bereitstellung und Nachnutzung im Feld der Bildungsforschung verbunden sind bzw. verbunden sein können. So ist beispiels- weise bei der Erstellung von Forschungsdaten in einem Forschungsprozess oftmals nicht geklärt, ob und unter welchen Bedingungen diese Daten archiviert werden. Diese Daten werden für die Anforderungen des jeweiligen Forschungsprojektes erstellt, nicht aber mit Blick auf eine Archivierung und Nachnutzung. So stehen Sekundärforschende vor der Herausforderung, die Verwendbarkeit der Daten für ihr eigenes For- schungsinteresse zu beurteilen. Dabei sind sie zentral auf Kontextinformationen angewiesen, die oft nur in begrenztem Umfang vorliegen. Somit stellt sich die Frage, ob und in welcher Weise eine spätere Bereitstel- lung der Daten schon bei deren Produktion mitgedacht werden sollte und welche Folgen dies für die Erstel- lung von Daten in Primärforschungsprozessen hat.

Der Varia-Call #5v schließt an die vorliegenden Diskurse und benannten Forschungsdesiderate an und lädt qualitative Bildungsforscher*innen zu einem fachlichen Diskurs ein, der sich auf empirisches Material be- ziehen kann, aber nicht muss. Dabei sollen Beiträge zu folgenden drei Themenkomplexen entstehen:

1. Praxis und Methoden der Bereitstellung, Archivierung und Nutzung von Sekundärdaten. Welche Vorgehensweisen wurden im Feld der Bereitstellung, Archivierung und Nutzung von Se- kundärdaten bereits erprobt und was können als ihre spezifischen Herausforderungen beschrieben werden? Wie wurden Datenkorpora erstellt und mit Metadaten versehen? Wie haben Sekundär- forschende mit diesen Daten gearbeitet und welche methodischen und methodologischen Prob- lemstellungen haben sich hierbei ergeben? Im Konkreten kann darüber hinausgehend gefragt wer- den: Wie müss(t)en Daten beschaffen sein, damit diese fachlich adäquat nachgenutzt werden könnten? Welche wissenschaftlichen Standards (z.B. Transkriptionsstandards, Qualität ethnogra- phischer Protokolle, etc.) und Kontextinformationen (z.B. datenerhebendes Projekt, Forschungs- fragen, Kontextualisierung von Beobachtungen, Prozess der Datenerhebung, über die interviewte Person, Feldwissen, etc.) sind sinnvoll, damit mit diesen Daten qualitativ gearbeitet werden kann? Wie verändern sich Daten aufgrund einer Aufbereitung für Archivierung und Sekundärnutzung (z.B. durch Anonymisierung und Dekontextualisierung)? Was wird dadurch beschränkt und ermöglicht?

2. Potentiale der Nachnutzung und Kriterien für die Archivierung von Forschungsdaten. Eine Aufbereitung und Bereitstellung von Daten erscheint nur dann als sinnvoll, wenn sich ein ent- sprechendes Nachnutzungspotential erkennen lässt (Hirschauer 2014). Doch wie lässt sich dieses vorab bestimmen? Was können fachliche Kriterien für eine Archivierung qualitativer Forschungs- daten sein? Welche intendierten und nicht-intendierten Folgen könnten aus solch einer Bestim- mung für die Erzeugung von Daten zur Nachnutzung resultieren? Und zudem: Wie können mit „al- ten Daten“ „neue Erkenntnisse“ gewonnen werden?

3. Ethische und methodologische Fragestellung der Datennachnutzung.
Welche neuen ethischen Implikationen sind mit dem Teilen von Forschungsdaten aufgeworfen – und was ist insbesondere mit Blick auf den Persönlichkeitsschutz der besonders vulnerablen Per- sonengruppen Kinder und Jugendliche zu beachten? (Kämper 2016) Zudem wäre darüberhinaus- gehend zu diskutieren, dass wenn qualitative Daten von anderen als den datenerhebenden For- scher*innen eingesehen und ausgewertet werden, sich hieraus forschungsethische und methodo- logische Fragestellungen ergeben. Welche Voraussetzungen müssen Daten hinsichtlich ihrer je spe- zifischen Beschaffenheit erfüllen, damit sie mit anderen methodischen Zugriffen als im Primärfor- schungsprozess nachgenutzt werden können? Was bedeutet es, wenn mit einem neuen Zugriff auch eine Verschiebung des Gegenstandes einhergeht, etwa wenn die Primärforschenden selbst zum Gegenstand wissenschaftlichen Interesses werden oder Fragestellungen an das Material her- angetragen werden, die von Forschenden und Beforschten nicht antizipiert werden konnten?

 

1 https://ec.europa.eu/research/participants/data/ref/h2020/grants_manual/hi/oa_pilot/h2020-hi-oa-data- mgt_en.pdf
2 https://www.eua.eu/resources/publications/1003:the-eua-open-science-agenda-2025.html
3 https://www.forschungsdaten-bildung.de/files/stellungnahme_zum_fdm_dgfe-gebf-gfd.pdf

Literatur

Bambey, Doris; Corti, Louise; Diepenbroek, Michael; Dunkel, Wolfgang; Hanekop, Heidemarie; Hollstein, Betina et al. (Hrsg.) (2018): Archivierung und Zugang zu Qualitativen Daten. In: RatSWD Working Paper 267/2018. Berlin: Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten, S. 1-13.

Bambey, Doris; Meyermann, Alexia; Porzelt, Maike; Rittberger, Marc (2018b): Bereitstellung und Nachnutzung qualitativer Daten in der Bildungsforschung. Das Forschungsdatenzentrum (FDZ) Bildung am DIPF. In: Doris Bambey, Louise Corti, Michael Diepenbroek, Wolfgang Dunkel, Heidemarie Hanekop, Betina Hollstein et al. (Hrsg.) (2018): Archivierung und Zugang zu Qualitativen Daten. In: RatSWD Working Paper 267/2018. Berlin: Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten, S. 59–68.

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Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE); Gesellschaft für Empirische Bildungsforschung (GEBF);

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Hammersley, Martyn (2010): Can We Re-Use Qualitative Data via Secondary Analysis? Notes on Some Termino-

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Hartong, Sigrid; Machold, Claudia; Stošić, Patricia (2020): Zur (unterschätzten) Eigendynamik von Forschungsda-

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Richter, Caroline/ Mojescik, Katharina (2021): Qualitative Sekundäranalysen. Daten der Sozialforschung aufbe- reiten und nachnutzen. Wiesbaden: Springer VS.

Schindler, C. (2018). Informationspraxen in der Bildungsforschung: Ethnographische Informationsforschung über Forschungsumgebungen, Apparaturen und Forschungsdaten in Interaktion. Beiträge zur Theorie und Ge- schichte der Erziehungswissenschaft; 42. Julius Klinkhardt. https://doi.org/10.25656/01:15548

Zeitschrift für Pädagogik (2021): Forschungsdaten in den Bildungswissenschaften – Archivierung und Nachnut- zung. Jg. 67, Nr. 6.